Zum Tod meines Vaters

(Dezember 1942 – Januar 2008)

 

Mitten im Weltkrieg geboren, standen die Zeichen Deines Lebens von Anfang an auf „Krieg“, mindestens aber auf „zwei Fronten“, zwei Seelen, Polarität.

Du spürtest zwar die unbedingte Liebe Deiner Mutter, aber die Bombenhagel, unter denen sie mit Dir als Baby und Kleinkind in den Keller floh, eine Evakuierung und die Eifersucht des Vaters, als der Krieg vorüber war, ebenso. „Zuckerbrot und Peitsche“ - wobei die Zuordnung immer eindeutig war. Ich weiß nicht, inwiefern Du später, als Dein Vater älter und alt war, ihm das verzeihen konntest, was das Ergebnis seiner eigenen Probleme mit sich und seinem Lebensweg war, seiner Unzufriedenheit. Ob Du Dich damit überhaupt auseinandersetzen konntest, denn da kämpftest Du selbst schon mit Dir...

Du wurdest nicht geschlagen, wie Oma immer betont hat („... das hätt’ er sich mal wagen sollen...“), aber es war schwierig, wenn nicht gar unmöglich, sich als Persönlichkeit zuhause zu entfalten, wie es heute als „normal“ angesehen wird, beinahe als von der Natur gegebenes Recht. Ich denke, Du mit Deinem zurückhaltenden, ja lieben Charakter, der so gar nicht auf Konfrontation aus war, sie vermutlich gar nicht ausgehalten hätte, konntest es wirklich nicht. Deine äußere Ruhe entsprang sowohl aufrichtiger Bescheidenheit als auch vermutlich anerzogener Mutlosigkeit, die Du immer selbst bei Dir wahrgenommen und manchmal thematisiert hast. Dass Du es aussprechen konntest, hat Dich nicht vor der inneren Zerrissenheit bewahrt; da muss noch viel mehr, Tieferes gewesen sein...

Gezeichnet hast Du schon als Kind, und mit 14 wurdest Du sozusagen „entdeckt“, ich glaube, von einem Bekannten der Familie. Der sprach auch für Dich bei Deinem späteren Arbeitgeber vor, und so wurdest Du - nach dem Besuch der Volksschule - Musterzeichner. Meines Erachtens war das Segen und Fluch zugleich: es war Dein Brotjob, und so lag der Gedanke vermutlich von Anfang an fern, es „künstlerisch“ zu sehen. Es war immer Handwerk für Dich; ich hörte immer „gut gemacht“, wenn Du über irgendwelche Bilder von irgendwem sprachst und sie gut fandest; nie sprachst Du über die Intention, über den Gedanken dahinter, auch nicht bei Deinen eigenen Sachen. Im Sinne der heutigen Konzeptkunst - so wage ich einfach mal zu behaupten - gab es diesen Gedanken auch gar nicht; Du wolltest es „nur“ gut machen. „Kunst“ kam bei Dir von „Können“; Bilder mussten immer auch Deiner Ästhetik genügen.

Als Jugendlicher hast Du mit der Familie Deiner Tante z. B. Italien besucht; Deine Hochzeitsreise ging auf die damals jugoslawische Insel Rab. Geschäftlich warst Du in Paris, Como, Mailand. Du bist gerne geflogen. Man kann nicht sagen, dass Du privat oft oder weit gereist bist, obwohl da bestimmt eine Sehnsucht in Dir war, deren Nicht-Erfüllung sich dann anders zeigte... Weil „mehr“, weiter finanziell auch gar nicht drin gewesen ist als Alleinverdiener, und das in der schlecht bezahlten Textilindustrie, bist Du mit uns als Familie in den Sommerferien nach Holland gefahren. Wir Kinder kannten es nicht anders, und wir fanden es klasse da. Überhaupt hast Du, habt Ihr ja sehr bodenständig gelebt; als ein 1967 zur Welt gekommenes Kind realisierte ich später sehr stark, dass da gerade auch alternative Lebensformen zu Festanstellung, Ehe und Kindern ausprobiert wurden...

Vielleicht hast Du Dir aufgrund dieser unbestimmten Sehnsucht, die ich vermute, zum Dienst am Vaterland die Marine ausgesucht, aber auch in dieser Wahl finden sich Parallelen zu Deinem übrigen Leben für mich, denn das Schulschiff stach nie in See... manchmal, wenn Du erzählt hast, kam trotzdem eine Art Seemannsromantik rüber, die Du dort wohl auch empfunden hast - wer braucht da schon das offene Meer...? Ein Kamerad, der sich in letzter Zeit immer mal wieder bei Dir nach dem Befinden erkundigt hat, rief an, nachdem Du gestorben warst, und erzählte meiner Mutter, dass er Dich am liebsten gemocht hätte aufgrund Deines liebenswürdigen und sensiblen Charakters, Deiner guten Manieren, Deiner bewusst ausgewählten Kleidung („Er war immer der Gentleman unter uns.“) --- ich würde sagen: aufgrund Deiner Kultiviertheit, obwohl Du den Ausdruck selbst sicher „hochgestochen“ empfunden und daher abgelehnt hättest... aber Fotos aus dieser Zeit zeigen genau einen solchen Mann. Deine Zeichnungen waren so gut, dass sie Dir damals gestohlen wurden...

In Deinem Bücherschrank standen C. W. Ceram („Götter, Gräber und Gelehrte“) neben Thor Heyerdahl („Kon-Tiki“ und „Ra“) und Alexander Spoerl („Memoiren eines mittelmäßigen Schülers“), und ich las das alles, 12 oder 13 Jahre alt. Die Lektüre wäre bei meinen MitschülerInnen höchstwahrscheinlich auf Unverständnis gestoßen... das fühlte ich nur; ich habe es nicht ausprobiert, denn an meinem eigenen Mut musste ich auch noch arbeiten zu dieser Zeit... Über Spoerl heißt es im Internet: „In seinem charakteristischen Stil - eine Mischung aus Humor und Ironie, gemischt mit melancholischen Untertönen -...“ --- wenn Du geschrieben hättest, hätte diese Charakterisierung sicher auch für Dich gegolten; ziemlich sicher wäre es aber Dein Wunsch gewesen, die Dinge, wenn, dann so auszudrücken.

Irgendetwas bewusst auszudrücken, das Gefühl, dass es wert wäre, einen Gedanken von Dir als genauso wichtig kundzutun wie der irgendeines anderen - diese Intention hattest Du nie. Obwohl Du es hättest sein können: Du warst kein „Botschafter“. Oder Du warst einer ohne Absicht. Du warst immer fair, aber nie laut. Du hast für Dich selbst nichts gefordert, aber Du hast Ungerechtigkeiten gespürt. Die Wut, die teilweise und zwangsläufig das Ergebnis war, richtete sich nach innen, statt eine Stimme zu bekommen, die gehört werden konnte. Deine selbstzerstörerische Ader hat Dich viele Jahre Deines Lebens - auch unseres gemeinsamen Lebens - bestimmt, Jahre, in denen sowohl Deine Frau als auch Deine Kinder als auch Du selbst Dir egal waren. Privat gezeichnet und gemalt hattest Du da lange schon nicht mehr. Die Firma, für die Du Dein Berufsleben lang tätig warst und bei allem Stress und Konkurrenzdruck, den gerade Du stark empfunden haben musst, auch gerne, solang Du dort zeichnen konntest, ließ Dich zwei Jahre vor der (firmenbedingt frühzeitigen) Entlassung noch intern umschulen. Diese Arbeit hast Du nicht gemocht, aber Du hast Dich darein gefügt und Farbnummern auswendig gelernt...

Du wurdest Rentner, und nachdem mental und körperlich gar nichts mehr ging, standest Du vor einer wichtigen, vielleicht der wichtigsten Entscheidung in Deinem Leben, sicher aber war es eine der schwersten: sollte es weitergehen? Es war nur klar, dass es so, wie es war, nicht mehr ging. Ich weiß nicht, ob Du da „Zukunft“ sahst, irgendetwas, das Dich zog, aber Du hast den ersten Schritt zur Rettung zugelassen, Entzugserscheinungen und Scham, die Du sicherlich empfunden hast, bekämpft. Gerade in den letzten Jahren hat man Deine Dankbarkeit gemerkt, das Wissen darum, dass Du es ohne Deine Frau nicht geschafft hättest. Vielleicht hast Du Dich auch, immer, wenn Du sie ansahst, gewundert und beinahe nicht glauben können, dass sie da noch war, immer noch neben Dir.

Die Freude am Leben kam zurück. Du hattest Spaß am und im Garten, an der Vogelfütterung, an den notwendigen Renovierungsarbeiten am und im Haus. Weil Du - ganz bewusst - nicht mehr maltest (die Farben habe ich bekommen), aber die Kreativität ja irgendwohin musste, begannst Du mit Holzarbeiten: Spaliere für den Garten und Deko fürs Haus, und ich behaupte, dass Deine Kreativität und Genauigkeit wunderschöne Sachen entstehen ließen; typisch, dass, wenn Du sie zeigtest, es mit den Worten tatest: „... nichts Besonderes... aber...“ auch Du fandest sie gelungen und hast manchmal beinahe ein bisschen stolz gewirkt. --- Für mich warst Du jemand, der hätte reisen müssen, aber das war finanziell natürlich immer noch nicht möglich. Ich weiß sogar nicht, ob Du es sonst getan hättest... Kompensiert hast Du Deine Natursehnsucht zum einen durch den Garten, zum anderen durch Dokumentationen, die Du Dir im Fernsehen ansahst. Ich denke, vor der Natur hattest Du echte Hochachtung.

Als die Krankheit diagnostiziert wurde, warst Du unglaublich tapfer. Du hast die Nachricht alleine aufnehmen müssen, und als wir Dich wenige Stunden danach besucht haben, warst Du schon wieder gefasst. Du hast ganz anders reagiert, als ich es befürchtet hatte: kein Rückfall in Resignation und Depression, stattdessen hast Du viel darüber gesprochen und - ja: den Kampf aufgenommen. Obwohl wir Dich eher ungeduldig kannten, hast Du für mich in Deiner Krankheit und gerade während der Krankenhausaufenthalte alle Geduld der Welt bewiesen, und Menschen, die selbst betroffen waren oder sind, wissen, dass das nicht selbstverständlich ist. Du hattest schon einige Zeit mit dem Rauchen aufgehört, und am Tag der Entlassung nach der Diagnose bist Du an einem Kiosk vorbeigekommen, bist langsamer geworden --- und nicht hinein gegangen. Wenn ich mir die Situation vorstelle: darauf konntest Du auch stolz sein, und ich glaube, das warst Du auch.

Du bist überhaupt tapfer durch diese letzten zwei Jahre gegangen; da haben Dich Deine Familie und nahestehende Menschen sicherlich alle ganz ähnlich, wenn nicht gar gleich erlebt. Selbst, wenn Du einmal niedergeschlagen warst (wer wäre das nicht), selbst bei starken Schmerzen, die Dich manches Mal auch wimmern ließen --- gejammert im landläufigen Sinn hast Du nicht. Du hast alles wirklich angenommen. Und ich glaube, deswegen konnte es Deine Familie auch. Selbst Deine Ärztin hat Dich, ebenso wie wir, manchmal schelmisch erlebt, obwohl Deine Seele sicher, genau wie früher, zusätzlich zu der schweren Krankheit die ebenfalls inoperable Last der Welt getragen hat... als Du gingst, war Deine Familie mit Dir, und wir haben gleichzeitig mit der Trauer die Erleichterung für Dich empfunden, die Freiheit. Und endlich den Frieden.

Das alles sind meine Eindrücke von Deinem Leben auf Erden; ich möchte Dich damit nicht „festschreiben“. Schön wäre gewesen, noch den einen oder anderen Eindruck zu bekommen, der vielleicht dieses oder jenes revidiert hätte, einen ganz neuen, unbekannten oder einen, der das eine oder andere hätte bekräftigen können... --- so muss es nun so bleiben.

Manchmal fliegt mich der Gedanke an - gerade weil ich mir ein bestimmtes Bild machen konnte -, dass dieses Bild so falsch nicht ist, dass auch die Essenz des Bildes, das Ergebnis Deines Seins auf Erden, so falsch nicht ist, und dass ich gerne in Deinem Sinne weiter machen möchte. Eine Kombination sein: den Gedanken eine Stimme geben, wenn’s sein muss auch eine laute, bei aller gebotenen Zurückhaltung und Bescheidenheit. Manchmal fliegt mich der Gedanke an, der zu einem Wunsch wird... zu dem dringenden Wunsch, dass ich das kann.

Denn Du warst doch auch mutig.

Lebewohl.

 

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