Interview 3 – Stichworte 2010

 

Interviewer: Hallo! Wir treffen ja nicht zum ersten Mal aufeinander… wie freimütig bekomme ich denn diesmal Auskunft? [schmunzelt]

Pint: So wie immer! [lacht] Was wollen Sie wissen? 42 Jahre alt, einssiebenundsechzig groß – so steht’s jedenfalls im Ausweis…

I: Neinnein, [wehrt lachend ab] aber da springen wir ja schon mitten in ein erstes Thema: überall wird der Verlust der Privatsphäre beklagt, jeder gibt überall über alles Auskunft… – wie stehen Sie denn dazu?

P: Ich sehe da zwei Seiten; es ist eine Gratwanderung. Auf der einen Seite möchte man allzu direkte oder tiefe Einblicke vermeiden – so bin ich alleine schon erzogen worden – auf der anderen Seite finde ich es erstrebenswert, sich möglichst ohne Maske zu begegnen --- das empfinde ich schon ein bisschen als Widerspruch. Ich selbst werde im Grunde immer freimütiger im Auskunft geben, weil ich diesen zweiten Aspekt–

I: – das „sich ohne Maske begegnen“?

P: ja – im Grunde wichtiger finde als das Verschweigen, oder Verschleiern. Allerdings ist das ja auch von Mensch zu Mensch, von Situation zu Situation verschieden. Manche wirken lächerlich und so, als hätten sie nicht unbedingt hehre Gründe für die Auskunft, wirken selbstverliebt oder größenwahnsinnig oder dumm, anderen spricht man eine große Authentizität zu… – auch da gibt’s vermutlich nichts Allgemeingültiges… Ich selbst muss selbst von nahe stehenden Menschen eher gefragt werden, ehe ich etwas von mir erzähle, aber wenn ich dann erzähle, mache ich das aufrichtig. Was ich nicht erzählen wollte, würde ich dann lieber ganz aussparen als ein falsches Bild entstehen zu lassen… Vielleicht ist am Ende das Bild, das die Allermeisten in den allermeisten Fällen von jemandem haben, das wahrhaftigste…

I: Das hört sich sehr nachdenklich an…

P: Ja, ich finde das schwierig zu verallgemeinern. Man kennt das doch von sich selbst: man hat einen guten Grund für das eine oder andere, aber ein anderer Mensch vermag diesen Grund nicht zu sehen oder zu akzeptieren und wertet die Aussage oder das Verhalten eben anders…– und schon wackelt das Bild… Wichtig finde ich, im Gespräch zu bleiben, wirklich vielleicht noch einmal zu begründen, was einen bewegt. Die populäre „Ich muss mich nicht rechtfertigen“-Einstellung finde ich nicht hilfreich.

I: … aber immer wieder begründen auch nicht, oder…?

P: Es geht ja nicht um „immer wieder“, sondern um das Gefühl dafür, für die Erklärung seines Beweggrundes alles versucht zu haben. Man sollte zwar auch erkennen, wann es sinnlos wird, aber es ist ja eher selten, dass so etwas komplett sinnlos wird. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass bei unterschiedlich eingestellten Menschen das Verständnis für den anderen abnehmen kann, wenn man sich nicht mehr austauscht; zuweilen stark abnehmen kann oder sogar ganz verschwindet. Gespräche helfen fast immer.

I: Und wenn sie nicht mehr helfen?

P: … ist es für mein Verständnis auf jeden Fall friedlicher, das anzuerkennen, dass Worte es nicht mehr bringen. Vielleicht muss man eine Weile ohne den anderen gehen, oder man muss ein bestimmtes Thema ausklammern – alles möglich, ohne den anderen anzufeinden oder bei anderen schlechtzumachen…

I: Was steckt denn Ihrer Meinung nach dahinter, wenn Leute das tun?

P: Ich weiß nicht, ob bei allen dasselbe dahintersteckt – eher unwahrscheinlich. Und womöglich eine Mischung aus Gefühlen, Gedanken… ich bin keine Psychologin, aber ich würde im Zweifelsfall Angst vermuten… ein diffuses Gefühl von Angst… nicht bestehen zu können… in der Welt… gegenüber der anderen Ansicht, gegenüber der anderen Person… vielleicht ein Gefühl von Scheitern

I: Kennen Sie das Gefühl selbst?

P: Ich kenne es bei konkret gestellten Aufgaben, die man nicht bewältigt, aber nicht im Großen und Ganzen, beispielsweise auf ganze Lebensabschnitte bezogen oder gar auf ein ganzes Leben! Die Leute sehen es natürlich unterschiedlich; das liegt an ihren Definitionen. Aber ich kenne in meinem Leben bislang keine Sache, die nicht eine andere Seite hätte. Von ganz schlimmen Schicksalsschlägen oder einer lebensbedrohenden Krankheit war ich bisher verschont, aber ich weiß aus tiefster Seele, dass es kommen kann. Ich habe mich in meiner Jugend immer als Pessimistin bezeichnet, aber eigentlich bin ich optimistische Realistin. [schmunzelt] Ich denke jetzt – ohne dass es gerade besonders schwierig ist in meinem Leben – dass ich diese andere Seite an einer Sache immer sehen würde…

I: Darf ich es ansprechen oder meinen Sie es gerade selbst – die Trennung von Ihrem Mann…? Und --- ist das nicht gerade „besonders schwierig“?

P: Selbstverständlich hat das sehr traurige Momente; wie kann das anders sein nach einer so langen gemeinsamen Wegstrecke! Aber als „besonders schwierig“ betrachte ich Lebenssituationen, die einen nicht geradeaus denken lassen, verzweifeln lassen – und selbst aus solchen Krisen kann man gestärkt hervorkommen! Das würde ich mal als „Personenkrise“ bezeichnen; der Mensch ist direkt, im Grunde seiner Existenz betroffen. Das waren mein Mann und ich nicht, würde ich sagen. Die Paarbeziehung [betont das Wort] war in einer Krise, und darauf haben wir reagiert. Aber auch hier: nichts gilt für alle. Wir haben z. B. zu hören bekommen „Paare, die sich schlechter verstehen als ihr zwei, sind noch zusammen“, aber so dachten mein Mann und ich eben nicht. Alles läuft individuell ab, sehr unterschiedlich, und man kann in solchen Situationen um ähnliches Denken beim betroffenen Paar sehr glücklich sein – und evtl. darum, dass man dann, in der Situation, keine Kinder hat…

I: Sie wollten nie Kinder?

P: Ich wollte anfangs nicht grundsätzlich kein Kind; mir fiel nur irgendwann einmal auf, dass der Wunsch danach, den andere äußerten und umsetzten, bei mir nicht so vorhanden war. Der Wunsch, der so stark ist, dass man z. B. auch Krankheit und Tod eines Kindes mit akzeptieren muss, oder, wenn es nicht direkt klappt, mit allen Regeln der Kunst experimentiert, um schwanger zu werden. Bei anderen konnte ich es nachvollziehen oder habe es eben gehört und nicht hinterfragt, auch nicht bewusst den Unterschied zu meinem Denken gefühlt. Bei denen war es dann eben so empfunden, und bei mir, für mich anders. Eine Freundin fragte damals mal „Jetzt werden alle schwanger – willst du nicht auch?“ Da wurde mir bewusst, dass mich andere Lebensentwürfe nicht unbedingt animieren oder „mitziehen“, ich den meinen nicht aktiv mit den anderen vergleiche und nicht unbedingt „auch will“. [demonstriert die Anführungszeichen]

[Eine kleine Pause entsteht; der Interviewer unterbricht nicht]

Ich habe mich mal über eine Berichterstattung im WDR-Fernsehen aufgeregt, in der die Moderatoren einen Bericht vorstellten und kommentierten. Darin ging es um die Verantwortungslosigkeit der heutigen Männer, die keine Väter werden wollten. Ich dachte kurz, ich wäre bei den Privaten gelandet! Ich finde überhaupt nicht, dass man seiner Verantwortung eher nachkommt, indem man eine Rolle bekleidet, die die Gesellschaft für einen ausgesucht hat, egal, ob sie dem eigenen inneren Weg entspricht. Wie kann man so ein Thema so pauschalisieren, und dann ein noch immer als seriös geltender Sender, den ich so regelmäßig und gerne schaue! [mit gespielter Verzweiflung] Jeder muss die Dinge an einem für ihn passenden Platz in der Welt erfüllen, und jeder auf seine Weise. Wenn man das differenziert und bewusst tut, dann lebt man verantwortungsvoll, ob mit oder ohne Nachwuchs.

I: Viele wollen vielleicht etwas in die Welt setzen, was sie überdauert… wollen etwas weitergeben, jetzt mal ganz unabhängig von diesem Verantwortungsgedanken…

P: Das ist ja auch ein verständlicher Wunsch irgendwie. Aber auch der hat mich, was Kinder anbelangt, nicht genug „gezogen“. Wer weiß schon, was er weitergibt… Ich denke, die Allermeisten werden bei diesem Wunsch irgendein Bild im Kopf haben, vielleicht nur ein schemenhaftes. Aber niemand stellt sich vor, dass sein Kind zu einem Verbrecher wird z. B. Es gibt genug Leute, die Probleme damit haben, wie ihre Kinder sich entwickeln, selbst, wenn das gar keine wirklich problematischen Entwicklungen sind, wie z. B. – immer noch – nicht heterosexuell veranlagt zu sein. Je nach dem eigenen Bild, das man sich von seinem Kind, von seiner Familie gemacht hat, kann das ja auch enttäuschend sein. Ich denke, es gehört eine gewisse Größe dazu, seinen Nachwuchs zwar anzuleiten und eine gewisse Weile zu beschützen, ihn aber dennoch unabhängig von sich selbst betrachten zu können, meinetwegen so, als sei er das Kind eines Freundes. Da kann man ja auch relativ urteilsfrei sein. Meistens. [schmunzelt]

I: Und diese Größe haben oder hätten Sie nicht…?

P: Ich würde mich um sie bemühen, aber sich in einer kinderlosen Situation vorzustellen, realistisch [betont sehr das Wort] vorzustellen, wie es wäre, wenn… – das ist mir zu spekulativ. Ich weiß, dass ich mir oft Sorgen mache… nein: ich weiß nicht, wie ich als Mutter gewesen wäre.

I: Und a pros pos „Urteile“… sinnvoll oder eher weniger?

P: Es kommt darauf an. – Sie meinen doch die täglichen Urteile, die jeder Mensch am Tag so fällt, oder? –

I: Ja, keine richterlichen Urteilssprüche.

P: o.k.! [lacht] Also: es kommt darauf an. Ich denke, ganz ohne kommt kein Gehirn aus. Ich achte aber schon verstärkt darauf, dass ich z. B. nur auf mich bezogen urteile, und ich revidiere Urteile auch, wenn sich meine Erfahrungen ändern. Zu diesem Thema gibt es ein schönes Beispiel aus meinem privaten Bereich: eine Frau, mit der ich mich angefreundet habe, schwärmt, dass sie mir alles erzählen könne, ohne dass sie sich beurteilt fühlt, eine andere, die ich kenne, regte mir gegenüber schon an, ich solle doch versuchen, das Urteilen mehr zu lassen… [schmunzelt] Das zeigt doch wieder, dass jeder den anderen nur auffasst, wie es ihm durch seinen eigenen Hintergrund möglich ist; auch da gibt es nur „Tendenzen der Wahrheit“, keine allgemeingültige Schlussfolgerung, „wie jemand ist“. [demonstriert die Anführungszeichen] Wenn man mit Urteilen bewusst umgeht und nicht eines „ein für alle Mal“ fällt, ist doch nicht mehr viel gegen sie einzuwenden, oder? Ich finde auch normal, dass sie sich über eine Lebensspanne einfach so bilden in einem; das macht man ja nicht bewusst. Und nachzuforschen, wo bei einem, in seinem Kopf etwas herrührt, das ist doch spannend! Ich denke, dass man lediglich vermeiden sollte, über andere zu urteilen, deren Situation man entweder überhaupt nicht kennt oder in die man sich nicht hineinversetzen kann – und selbst wenn man das könnte erscheint es mir logisch, dass man unterschiedlich darüber denkt. Dass einem das bewusst sein sollte: das meine ich mit dem bewussten Umgang. Prinzipien oder konsequentes Verhalten wären ohne ein gewisses Urteilen ja auch nicht möglich.

I: Ist Ihnen das wichtig?

P: Ich weiß nicht, ob „wichtig“ das richtige Wort ist… ich bin vermutlich so, ohne das zu bewerten. Was ich bewerte, ist eigentlich der Hintergrund meiner Konsequenz, und klar: da sind mir einige Dinge schon essentiell wichtig. Und wenn es nicht verspannt oder verknöchert daherkommt, sondern immer wieder hinterfragt wird, inwiefern die Haltung noch mit einem zu tun hat, entspricht das zumindest meinem Denken sehr.

I: Das kommt doch sicher gut an, oder…? [schmunzelt]

P: Bei der Kindererziehung kommt das theoretisch immer sehr gut an. [lacht] Zwischen Erwachsenen nicht immer so gut! Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich manche angegriffen fühlen durch eine andere Art der Herangehensweise, so, als hätte ich ihnen dadurch einen Vorwurf gemacht. Gerade, wenn etwas prinzipiell vertreten wird.

I: Können Sie ein Beispiel bringen…?

P: … hmmm… naja… was ich z. B. unbedingt brauche und gebe in einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Menschen ist Loyalität… nicht eine, die zuviel vom anderen erwartet nach meinem Ermessen; es muss mich z. B. niemand decken oder in Schutz nehmen, wenn ich mich mit irgendetwas gesellschaftlich objektiv falsch verhalte, lüge, stehle, irgendetwas in der Art. Aber wenn ein Mensch, mit dem ich bereits wechselseitig etwas aufgebaut habe, Schwierigkeiten mit etwas hat, das ich tue oder sage, dann erwarte ich, dass er mit mir darüber spricht. Mit mir. [betont sehr das Wort] Vielleicht nicht ausschließlich mit mir; - viele möchten auch gerne andere Meinungen hören oder sich einfach mal irgendwo aussprechen - , aber eben auch mit mir. Ich bin überzeugt davon, dass, wenn man den Austausch aufgibt, man einander verliert. Und ein dritter Mensch kann mich und meine Beweggründe nicht erklären – das kann ich nur selbst versuchen. Ich muss nur erfahren, dass Gesprächsbedarf auf der anderen Seite überhaupt besteht. [betont das Wort] Manchmal weiß man ja nicht einmal, mit was man dem anderen auf den Schlips getreten ist… Aber wenn ein anderer Mensch z. B. Loyalität nicht so wichtig für seine Kontakte findet, ist das für mich o.k., solange ich nicht „der Kontakt“ bin… [demonstriert die Anführungszeichen und schmunzelt]

I: Ein bisschen passt das zu dem, was wir bereits anfangs angesprochen hatten…

P: Ja. Ich halte es für das unverzichtbare Kernstück jeden Miteinanders, dass man offen und taktvoll spricht – aber eben spricht und nicht verbirgt.

I: Und wenn sich bei Ihnen jemand aussprechen möchte – über eine andere Person?

P: Dann höre ich sicher erstmal zu. Aber meistens enden solche Gespräche von meiner Seite immer gleich: ich rate, mit dem Betroffenen zu sprechen. Was hilft es, wenn ich spekuliere, warum der eine das und der andere das gesagt oder getan hat… – ich weiß es nicht nur nicht, sondern kann mich auch fies vertun in der Einschätzung --- und eine Sache für zwei andere Personen evtl. noch schlimmer machen. Ich glaube, dass das noch zu viele Menschen tun… sich einmischen, obwohl es nicht hilft und manchmal schadet. Auch, wenn jemand heftig insistiert und um eine Einschätzung quasi bettelt… ich finde es toll, wenn das Gegenüber sagt: ‚Rede mit x/y darüber; der hat’s gesagt oder getan; nur er kann wissen, warum, und die Beziehung zu ihm willst du retten, oder?’ Das ist für mich richtig verstandene Loyalität, die auch vor nicht so guten Bekannten oder völlig Fremden nicht halt machen muss.

I: Wie wichtig sind denn Freunde für Sie?

P: Sie sind wichtig. Ich mag Gemeinschaft und zusammen-Sein, wenn es nicht einengt oder aussaugt. Ich liebe [betont sehr das Wort] Austausch und gegenseitig etwas zu geben und mitzunehmen. Manchmal finde ich schade, dass man für manche Freunde zu manchen Zeiten zu wenig Zeit findet… aber ich weiß nicht, wie man es ändern könnte, denn denen geht es ganz genauso! Vielleicht hat man einfach zuviel um die Ohren… und mir geht es z. B. so, dass ich auch Zeit für mich allein brauche. [macht eine kurze Pause] Und ich mag es, Verbindungen zwischen anderen herzustellen. Das klappt leider viel zu selten so, wie es mich begeistern würde. Einmal im Jahr treffen sich viele sehr unterschiedliche Menschen auf meinem Geburtstagsfest. Wenn dann altbekannte Grüppchen bröckeln und sich Leute zum ersten Mal miteinander unterhalten, auch, wenn sie sich selbst ganz unterschiedlich sehen und noch gar nicht wissen können oder gar zweifeln, ob der andere sie interessiert, geht mir das Herz auf! Ich glaube, dass man nur so auch einmal anders denken kann, wenn man eine andere Denke mal wirklich an sich heran lässt. Ich mag Diskussionen, die friedlich und konstruktiv verlaufen. Auch im Internet. Da wird sich nur viel zu selten an die sog. Netiquette gehalten, was Vieles schon im Entstehen verhindert… und da nervt es mich z. B. auch, wenn jemand aus einer Diskussionsrunde von vornherein ausgeschlossen wird bzw. nicht so Fuß fassen kann wie irgendein anderes Mitglied – das ist Moderation, wie ich sie nicht gutheiße… – und warum verzichtet man freiwillig auf irgendeinen Input…? Ich wünschte auch, dass mein Diskussionsangebot auf meiner Homepage besser genutzt würde…

I: Hat das etwas mit „Freundschaft“ zu tun?

P: Austausch begünstigt das einfach! Und es würde mich natürlich auch freuen, wenn meine engeren Freunde mehr Notiz davon nähmen, was mich so beschäftigt… das ist beim Beispiel meiner Homepage natürlich sehr auf das Thema „Kunst“ im weitesten Sinn reduziert, aber das muss ja kein Widerspruch sein! Da geht es dann eben größtenteils darum, und mich beschäftigt der Umgang mit dem Thema eben. Also gehört es sozusagen untrennbar zu mir…

I: Da möchte ich noch näher drauf eingehen… Ihre Freunde nehmen also zu wenig Notiz?

P: Ach… es ist schwierig… Vielleicht haben die Menschen, mit denen ich die meiste Zeit verbringe, am wenigsten an dieser Facette meines Lebens Interesse, und mit den anderen fehlt mir evtl. überhaupt Zeit… ich denke jetzt an eine bestimmte Person, eine ganz entzückende Frau, mit der ich auf jeden Fall viel mehr Zeit verbringen wollte, wenn die Lebensumstände das zuließen. Wenn ich jetzt an sie denke… mit ihr wären solche Gespräche sicherlich nicht nur möglich, sondern sie ist selbst künstlerisch interessiert, schreibt oder hat das zumindest getan… und es ist ja auch nicht so, dass ich mit den anderen netten Menschen in meinem Leben nicht genau so auch zusammen sein wollte, wie wir es dann auch sind – auch ohne „mein“ Thema… [demonstriert die Anführungszeichen] Es ist schwierig. Mir fehlt schon Austausch in dieser Richtung, aber ich finde ihn schwierig „herzustellen“. Und was ich bis jetzt im Internet dazu versucht habe, ist meistens nach einiger Zeit im Sande verlaufen, weil Beteiligung ausblieb, oder ich habe die Plattform aus anderen Gründen ganz verlassen…

I: … wegen der fehlenden Netiquette…

P: Ja, oft.

I: Wie wichtig ist das Internet für Sie?

P: Für mich ist es schon irgendwie das Tor zur Welt, und für meine Sache ist es die [betont das] Plattform schlechthin. Man macht sich durch das Internet sehr erreichbar, sicher auch durchsichtiger, als Viele das wollen, aber für meine Sache bedeutet es in erster Linie Erreichbarkeit. Ein Angebot, nicht mehr, aber auch nicht weniger! Und diese vielen verschiedenen Angebote! Im Netz kann jeder mit jedem vertreten sein, und was viele belächeln oder als „zuviel“ empfinden, finde ich toll! Dass mannigfaltiger Missbrauch getrieben wird, verteufele ich natürlich, gerade, wenn Verbrechen über das Internet „beworben“ und „konsumiert“ werden… das ist unvorstellbar scheußlich. Aber dass jeder auch so viele gute Möglichkeiten dadurch hat… das ist doch wirklich toll. Dass jeder, der das Netz so nutzen kann, ein Jemand [betont das] sein kann, was ebenfalls belächelt wird – daran kann ich zunächst einmal nichts Schlechtes finden. Was heutzutage nach außen dringt, ist der Eindruck, dass es unter den No-Names nur entweder sich selbst überschätzende Selbstdarsteller gibt und Leute, die Angst haben zu wirken, als wollten sie zuviel gelten. Wenn jeder, der Angst davor hat, so zu wirken, sein Engagement, gleich in welcher Sparte, zurückschrauben würde, gäbe es doch keine Weiterentwicklung mehr, jedenfalls keine breitbandige! Sicher stelle ich mich im Netz auf irgendeine Art dar, aber solange ich keine Person erfinde, die mit mir nicht das Geringste mehr zu tun hat – warum sollte ich das also nicht tun? Mein Internet-Auftritt z. B. ist denn auch recht untypisch für’s Internet… ich habe – obwohl ich als Malerin vertreten bin – immer nur ein wechselndes Bild auf meiner Ausstellungsseite. Ansonsten sind Texte von mir… ja: beinahe versteckt untergebracht, und man muss, um die Person dort zu erfassen, ein bisschen Zeit mitbringen. Aber alles ist ja freiwillig! Wenn man diese Zeit nicht erübrigen kann und/oder will, surft man halt weiter! Ich denke sogar, dass im Falle meiner Seite das die Allermeisten tun. Und Leute, mit denen ich mich unterhalten habe, können nicht verstehen, warum es mir nicht in erster Linie darum geht, die Surfer „festzuhalten“. Die Antwort ist ganz einfach: weil ich auch im wirklichen Leben niemanden „festhalten“ möchte, der weiter will. Ich bin doch auch im wirklichen Leben „nur“ [demonstriert die Anführungszeichen] das Angebot, mich gegebenenfalls kennenzulernen…

I: Sie haben jetzt öfter schon das Wort „Zeit“ benutzt…

P: Ja, Zeit beschäftigt mich. Sie muss einen beschäftigen… [sehr nachdenklich] Zeit hat mit allem anderen im Leben zu tun. Sie ist der Maßstab für einfach alles!

I: [schmunzelnd] Beispiele…? „Einfach alles“ reicht mir noch nicht…

P: [guckt und macht Armbewegungen, als wüsste sie nicht, wo beginnen] Alle Stichpunkte, die wir bisher berührt haben, z. B., haben auch mit Zeit zu tun. Mit der persönlichen Zeit-Einteilung eines jeden Menschen, mit dem, was ihm wichtig und unwichtig ist. Wenn einem die Zeit bewusst wird, bekommt alles die Bedeutung, die die Dinge für einen haben sollten. Individuell unterschiedlich natürlich, aber die Tatsache, dass es so ist, eint die Menschen, die Zeit in sich gespürt haben –Vergänglichkeit. Die nicht nur wissen, dass es Zeit gibt, dass alles vergänglich ist, [betont die Worte] sondern die ab diesem Zeit-Punkt, wenn es denn ein bestimmter war, anders denken, reden und vor allem fühlen. Bei mir war es der Tod meines Vaters vor zweieinhalb Jahren. Ich hatte auch schon vorher Angehörige verloren wie die Großeltern z. B., und ich habe drei von ihnen auch tot gesehen, als ich 10, 20 und 30 war. Aber mich selbst berührt hat der Tod erst, als er meinen Vater betraf; da war ich --- 40. Wirklich alle 10 Jahre… [schüttelt den Kopf] Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass er der erste Mensch war, den ich beim Sterben begleitet habe, zusammen mit meiner Mutter und meinem Bruder. Aber alles fühlte sich danach anders an. Das hat nicht unbedingt mit der Trauer zu tun, denn ich empfand den Tod meines Vaters, wie es immer so klischeehaft klingt, durchaus für ihn als Erlösung, und konnte dadurch – ja, vielleicht kürzer und konstruktiver trauern; ich weiß es nicht. Ich denke jeden Tag an ihn und träume hin und wieder von ihm; er fehlt mir, aber nicht schmerzhaft; es ist schwer auszudrücken…

I: War er krank…?

P: Ja, er hatte Krebs.

I: Inwiefern fühlen Sie jetzt anders?

P: Ich weiß jetzt im Grunde meines Herzens, dass ich auch sterben werde. [macht eine Pause; der Interviewer unterbricht nicht; die Pause wird länger] Ja, ich kann es nur so sagen… im Grunde meines Herzens, meines Denkens und Fühlens. Vorher „wusste“ [betont das Wort] ich es auch, aber anders…

I: Denken Sie nicht auch, dass es mit dem eigenen Älterwerden zu tun hat?

P: Doch, sicher! Ich denke, dass wir den Tod anderer und unseren eigenen zunehmend anders betrachten, hat nur [betont das Wort] mit dem eigenen Älterwerden zu tun. Wir fühlen Zeit. Und wir sehen sie auch [lacht und hebt eine Ponysträhne an, so dass man die weißen Haare darunter sieht]!

I: Macht Ihnen das Probleme, dieses Wahrnehmen des äußeren Älterwerdens?

P: Bisher [dehnt und betont das Wort] nicht… [schmunzelt, wird aber sofort wieder ernst] Ich denke, dass Leute, die früh im Leben über ihr Aussehen definiert wurden größere Probleme damit haben als die anderen. Ich gehörte in Kindheit und Jugend zu den anderen. [lacht] Damals litt ich darunter, mich streckenweise sogar unsichtbar zu fühlen, aber wer weiß, wofür es gut war! Als ich begann, mit meinem Äußeren zufriedener zu werden, hatte ich bereits angefangen, mich mit Dingen zu beschäftigen, die damit nicht das Geringste zu tun hatten. Ich schrieb, ich begann zu zeichnen und zu malen. Ich setzte mich mit Philosophie auseinander, ohne mich groß auszukennen, las darüber rein aus Interesse. Heute bin ich im Großen und Ganzen völlig zufrieden mit meinem Aussehen, nehme es aber nicht als eine der Hauptsachen in meinem Leben. Und ich denke, es wird mit zunehmendem Alter sogar noch unwichtiger werden.

I: Aber Sie schminken sich, wenn auch dezent [lächelt], und es sieht auch nicht so aus, als hätten Sie heute Morgen völlig wahllos in den Kleiderschrank gegriffen…

P: Nein [lacht]. Ich mag die Sachen, die ich trage, und abgesehen davon, dass ich mich an neue Klamotten erstmal im Kleiderschrank [betont das] gewöhnen muss, kaufe ich auch gern mal Neues. Und ich schminke mich… ja: um mich besser zu fühlen.

I: Bevor Sie sich schminken fühlen Sie sich also nicht so gut…?

P: Es ist eher so, dass ich, wenn ich mich bleich fühle – was ich meistens bin – mich irgendwie ungesunder fühle als geschminkt, zumal ich dann auch in der Tat darauf angesprochen würde-

I: Ist das schon vorgekommen?

P: JAaA, das passiert! -und mich dann schlagartig noch ungesunder fühlen würde. Darüberhinaus würde ich mich dadurch unnötig viel und lang mit meinem Aussehen befassen. So schminke ich mich und denke darüber nicht mehr nach – jedenfalls nicht bis ich den Eindruck habe, dass ich nachlegen müsste! [lacht] Aber diese Dinge sind für mich nur nettes Beiwerk, das ich durchaus genießen kann – wenn sie mir aber mehr bedeuten würden, würde ich mir Gedanken machen… [kurze Pause] Margot Kässmann fragt in ihrem Buch „In der Mitte des Lebens“: „Ist Schönheit überhaupt eine akzeptable Kategorie in der Mitte des Lebens?“ Und wenig später spricht sie davon „wer hier eigentlich die Deutungsmacht hat“, und dass das zu prüfen sei. Dieser Ansatz war auch immer meiner. Wer gesehen hat, wie unterschiedlich es wahrgenommen wird, kann eigentlich keine Allgemeingültigkeit mehr feststellen, auch, wenn es den „goldenen Schnitt“ natürlich gibt. Das, was sie schreibt, bezieht sich überhaupt auf die Bewertbarkeit des Äußeren, nicht unbedingt auf’s Schminken. Aber in welchem Punkt sich alles wieder findet für mich, ist, dass man die Dinge von sich aus [betont das] bewerten sollte, machen sollte, womit man sich wohl fühlt. Darüber hinaus finde ich es gut, dass das Gesicht, das man hat, zu den Aussagen passt, die man macht. Ein Gesicht ohne Altersspuren passt nicht zu den Aussagen eines schon ein ganzes Stück gelebten Lebens… Ich klinge jetzt anders als mit 20, und mit 60 werde ich wieder anders klingen. Es ändert sich auch der Gesichtsausdruck mit den Jahren, unabhängig von Falten. Für mich muss der Gesamteindruck ein „runder“ sein, idealerweise auch der, den ich auf andere mache.

I: o.k., Sie definieren sich also nicht über Ihr Aussehen – worüber dann?

P: [Pause] Das ist eine schwierige Frage… ich definiere mich, glaube ich, gar nicht über ein bestimmtes „Schlagwort“, um es mal so zu nennen… nicht über mein Äußeres im schlechten Sinn, aber wer mich im Spiegel anguckt, ist ja nun mal „Sabine“, wie ich sie kenne und wie sie zu mir gehört… nicht über meinen Beruf; ich denke, weil ich da zu fremdbestimmt arbeite, um mich darüber definieren zu können. Über die Malerei schon eher, aber selbst bei ihr müsste ich überlegen, ob es für eine „Definition von Sabine“ [demonstriert die Anführungszeichen] reichen würde… [macht wieder eine Pause; der Interviewer unterbricht nicht] Ich glaube, am ehesten definiere ich mich über meine Gedanken, über mein Denken. Meine ganz eigene und persönliche Definition der Dinge, meine „Philosophie“ [demonstriert die Anführungszeichen] – das ist für mich auch am ehesten die Definition meiner Person. Ja.

I: Haben Sie Vorbilder?

P: Dafür jetzt?

I: Ich meinte die Frage ganz allgemein, aber natürlich können Sie die Antwort auch darauf beziehen…

P: Neinnein, ich wollt’ nur wissen, wie’s gemeint war… Keine bestimmten Vorbilder… [grübelt] fällt mir jetzt niemand Bestimmtes ein. Aber viele Leute, die mich in bestimmten Dingen motivieren, oder vielleicht besser: inspirieren. Oder ich denke an Menschen, an denen ich bestimmte Dinge einfach gut finde – oder die mich als „Gesamtpaket“ besonders ansprechen… [schmunzelt] ich rede so allgemein, nicht…? [macht eine kurze Pause] o.k., eine Person fällt mir ein, die es schafft, so über schwierige bis sehr schwierige Dinge, die einen hilflos machen und bei denen man sich selbst nicht leiden kann, während man darüber spricht und auch oft nicht leiden kann, wie das Gegenüber darüber spricht, so zu reden,-

I: [guckt hilflos, irritiert]

P: Ich versuch’s noch mal anders… [schmunzelt]

I: … vielleicht einfach ein bisschen konkreter…? [schmunzelt]

P: [atmet durch] In unserem Bekanntenkreis gibt es einen schweren Krankheitsfall, einen sehr jungen Wachkomapatienten. Als das nun passiert war, fiel mir nach den ersten Tagen, an denen man nur schockiert durch die Gegend läuft und an nichts anderes denkt als an dieses Unglück, auf, dass ich mich mit anderen nicht darüber unterhalten konnte, ohne in Wut zu geraten. Und zwar war ich meistens auf mich selbst wütend, dass ich über etwas sprach, von dem ich nicht unmittelbar selbst betroffen war, und zweitens keine passenden Worte für das alles fand. Und diese Hilflosigkeit fiel mir natürlich auch bei meinem Gegenüber auf, was mich insgesamt noch wütender machte… wahrscheinlich war ich auf die ganze Situation sauer, dass dieser Familie das jetzt passierte… Aber eine Person, mit der ich im Laufe der Zeit auch darauf zu sprechen kam, schaffte es, so darüber zu reden, dass man auf eine hinnehmende Art getröstet war… jedenfalls getröstet als nicht unmittelbar Betroffener… ich kann es nicht genau beschreiben. Aber ich konnte darüber reden ohne Hilflosigkeit und Wut so direkt zu spüren, ja, die Wut verging in diesen Gesprächen sogar ganz. Und unsere gemeinsame Hilflosigkeit konnte sie einfach so treffend ansprechen, dass alleine diese Art der Thematisierung mir schon half. Dass man hilflos war und es keine passenden Worte gab, hatte ich auch schon vorher mit anderen ausgetauscht, aber dieses „unpassende“ [demonstriert die Anführungszeichen] Gefühl ging nur im Gespräch mit ihr weg. Um diese Gabe – denn ich bin sicher, dass es eine ist – beneide ich sie konstruktiv und positiv. Das würde ich auch gerne können!

I: Positiver Neid?

P: Ja klar, weil’s eine Sache ist, die sie ja behalten dürfte! [lacht] Ich möchte es nur auch! [betont das Wort] Ich weiß nicht, ob sie im Gespräch auf jeden so wirkt – ich finde es faszinierend!

I: Haben Sie schon einmal die destruktive Form des Neids gespürt, dass man einem anderen etwas schlicht nicht gönnt?

P: [überlegt kurz] Nein… ich glaube, dass ich keinen Neid empfinde, wie man das Wort normalerweise meint, liegt daran, dass ich mich nicht in direktem Vergleich zu irgendeiner anderen Person sehe…

I: … darüber haben wir vorhin schon mal gesprochen…

P: Ja. Ich habe letztens noch einmal darüber nachgedacht, als jemand sagte, der oder die ginge einen „leichten Weg“… [demonstriert die Anführungszeichen] Wenn ein Mensch einem anderen das vorwirft, habe ich festgestellt, dann neidet er dem anderen oft etwas. Er macht sich aus diesem Grund – des Neidgefühls – nicht klar, dass ausnahmslos jeder [betont das], auch er selbst, den für ihn leichten, nachvollziehbaren und begründbaren Weg geht. Klar wird das für mich anhand des Beispiels, bei dem ein Mensch bewundert, was ein anderer tut. Der Bewunderer würde nie tauschen; er hätte richtiggehend Angst, wenn er die Vorgehensweise des anderen leben müsste. Oft macht sich dieser Jemand nicht klar, dass der so Bewunderte auch [betont das Wort] einen leichten Weg gewählt hat, den, den er nur gehen kann [betont das Wort], möchte er sich treu bleiben. Nicht bewusst; es läuft alles automatisch ab. So sitzen doch alle im selben Boot; ich denke, dass lediglich persönliche Defizite Menschen daran hindern, das zu erkennen. Diese Erkenntnis würde aber helfen, schlechte Gefühle, die wir auf andere projizieren, einzudämmen… und somit würde Neid in etwas Gutes umgewandelt, kann vielleicht Ansporn sein, wenn man auch mal eine andere Verhaltensweise antesten will… so sehe ich es jedenfalls.

I: Sind Sie ehrgeizig?

P: …hmmm… früher hätte ich direkt ‚nein’ gesagt, weil ich mich nie als ehrgeizig empfunden habe; das tue ich jetzt noch nicht. Aber ein Freund sagte mal, er empfände mich schon als „normal ehrgeizig“ [demonstriert die Anführungszeichen], weil ich meine Dinge verfolge, weil ich mir Ziele setze und sie umzusetzen versuche. ‚o.k.’, habe ich gesagt ‚wenn das Ehrgeiz ist, habe ich ihn auch.’ [schmunzelt]

I: Hat Sie an dem Wort etwas gestört, dass Sie es ablehnten…?

P: [überlegt] Ich weiß es nicht. Ich hatte es vermutlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht selbst definiert, sondern übernommen, wie andere es meistens meinten. Und da andere damit meistens das Erreichen eines äußeren Erfolges oder den Weg dahin meinten, konnte ich mich damit vermutlich nicht genug identifizieren…

I: Womit? Mit Erfolg? [guckt irritiert]

P: Mit vorgegebenen Erfolgen, nach dem Motto ‚Mein Haus, mein Pferd, mein Boot,…’. Mit Erfolgen, nach denen angeblich jeder strebt oder das sollte. Damit konnte ich noch nie was anfangen. Wenn ich gerne reite und ein Tier versorge, finde ich es klasse, ‚mein Pferd’ zu sagen oder das von jemandem zu hören, dann auch gerne stolz. Nur kenne ich das Gefühl nicht, etwas machen oder haben zu wollen, weil das einen bestimmten Status kennzeichnet; da lief ich damals schon neben der Masse. Ich wollte Bio studieren, weil ich daran Interesse hatte. Vermutlich wäre ich spätestens an Chemie gescheitert, so bin ich schon am NC gescheitert. [schmunzelt] Viele wollten BWL studieren. Wenn ich fragte, warum, kam sehr oft ‚ich weiß es noch nicht so genau, aber so komme ich mal ins Management’. Was gemanagt werden sollte, war erstmal egal. Diese Art des vorausschauenden Denkens ist mir bis heute fremd, und ich denke nicht, dass ich es mir noch aneigne, selbst, wenn ich sehe, dass Leute damit nicht mal unglücklich werden müssen, dass es Menschen gibt, für die das genau richtig war! Ich denke, für mich war Ehrgeiz immer das: ein Endziel zu sehen und darauf hinzuarbeiten, egal, ob der Weg dahin Freude macht. Und so bin ich irgendwie an keine Sache in meinem Leben herangegangen. Und dachte, dass ich demnach nicht ehrgeizig sein kann. [schmunzelt]

I: Und wie gehen Sie mit Konkurrenz um?

P: [überlegt] … ich glaube mittlerweile, dass ich Konkurrenzsituationen in meinem Leben bewusst vermeide… ich habe mich schon gefragt, ob ich da vor etwas Schiss habe, dass ich angehen müsste, aber immer, wenn mir solche Situationen begegnen – auch als nicht direkt Betroffene –, denke ich im Grunde, dass sich alles auch ergänzen könnte… sich alle [betont das Wort] ergänzen könnten. Es gab schon Situationen, da musste man mir sagen, dass mich da wohl jemand als Konkurrentin sieht – ich wäre da nicht drauf gekommen! [macht eine kleine Pause] Wir veranstalten ja jährlich diesen Künstlermarkt in Liedberg, und mir war es beispielsweise egal, wie viele Maler jeweils vertreten waren. Ich finde Bandbreite gut, fast immer und so auch da, aber wenn es sich mal ergab, dass besonders viele Maler teilnahmen, habe ich die z. B. nicht als Konkurrenz gesehen, weil ich auch mit Bildern vertreten bin, sondern vielleicht überlegt, ob es für das Publikum genügend Abwechslung bietet. Seit sich sowieso ein harter Kern an Teilnehmern herauskristallisiert, denke ich daran auch nicht mehr, sondern jetzt kann das Publikum die Entwicklung eben dieser Teilnehmer verfolgen… es hat alles Vor- und Nachteile [schmunzelt]. Und wenn es sich um in meinen Augen echte [betont das Wort] Konkurrenz handelt, z. B. bei einer Stellenausschreibung, würde es mich trösten, wenn einer der Konkurrenten dafür aus sachlichen Gründen [betont das] für die Ausschreiber eher in Frage käme als der andere; dass sie zumindest für sich begründen könnten, warum nun dieser und nicht jener. Dass es keine Willkür ist.

I: Da kann man nun wirklich frustrierende Dinge erleben…

P: Absolut. Willkür gehört zu den schlimmsten Dingen für mich, die man so erleben kann. Diese Hilflosigkeit und Ohnmacht… anders als bei anderen Ohnmachten… Krankheit ist beispielsweise eine Krankheit; die muss mir nicht begründen, warum sie mich heimgesucht hat… Ich kenne kaum Wut, die nicht ziemlich schnell einen Kanal findet und konstruktiv werden kann, aber die Wut auf willkürliches Verhalten oder Gerede ist unbeschreiblich bei mir... ich denke, daher kommt auch, dass ich mich oder mein Verhalten so oft erklären will. Andere winken dann schon ab, wollen oft auch im besten Sinne nichts mehr von mir dazu hören. Dass ich da penetranter bin als so manch einer sonst liegt an meiner Abscheu vor Willkür, glaube ich.

I: … und wenn Sie sagen, dass Sie Wut kaum kennen, würden Sie dann auch sagen, dass Sie viel Toleranz besitzen?

P: [lacht] Das ist wieder nicht mit einem Satz zu beantworten; tut mir leid!

I: Das macht gar nichts! [lacht und macht eine einladende Geste]

P: Als Teenager hätte ich gesagt „unbedingt!“, weil mir das immer so vermittelt wurde, besonders durch meine eine Oma, die Mutter meiner Mutter. Die schwärmte immer, dass ich so tolerant sei. Als ich mich das nächste Mal bewusst mit dieser Frage auseinandersetzen musste, lag ich mit befreundeten Menschen im Clinch, die mich für ziemlich intolerant halten mussten, da sie mir vorwarfen, Dinge bei ihnen vorauszusetzen, die nicht vorauszusetzen seien. Gut, aus Sicht dieser Menschen stimmte das vermutlich auch und stimmt bis heute, aber ich hatte konkret in unserem Miteinander da tatsächlich etwas vorausgesetzt, weil ich das selbst bot und biete, jedenfalls in meinen Augen und aus meiner Sicht. Aber das Selbstbild eines unglaublich toleranten Menschen war erst mal dahin, denn unabhängig, wer mehr „Recht“ [demonstriert die Anführungszeichen] hatte als der andere: diese Menschen sahen es eben so. Ich habe daraus mitgenommen, dass ich zu bestimmten Dingen stehen muss, die mir wichtig sind, und gegebenenfalls Menschen loslassen muss, mit denen es dann daraufhin nicht mehr gut „passt“ [demonstriert die Anführungszeichen]. Das bot und bietet dann wieder Konfliktstoff, denn einige nehmen meine Haltung als persönliche harsche Ablehnung und glauben darüber hinaus, mir fielen solche Abschiede leicht. Ich selber würde es so ausdrücken, dass ich mir lediglich keinen Rat weiß, wie bestimmte Konfliktpunkte dauerhaft auszuklammern wären, wenn sie in der Person der Betroffenen verankert sind, und ich meine alle [betont sehr das Wort] betroffenen Personen, auch mich… es hilft ja in dem Fall nicht, lediglich ein Thema außen vor zu lassen, bei dem man nicht zueinander kommt… Zu Ihrer Frage würde ich also sagen, dass angebliche positive wie auch negative Merkmale einer Person sehr relativ sind, dass ich z. B. meine Toleranz eher in Bezug zu etwas sehe als absolut. Ich verzichte also sozusagen auf einen guten „Titel“ [demonstriert die Anführungszeichen] durch die Gesellschaft zugunsten von Differenziertheit…

I: … und ich nehme an, dass nach Ihrem gerade angesprochenen „Clinch“ dann alle Gespräche schon gelaufen waren, von denen wir eingangs sprachen…

P: Ja.

I: Einige Dinge sind vielleicht auch nicht zu ändern oder zu klären…

P: Ja. Ich glaube, dass solche Dinge uns bilden, gerade die, denen man zuerst mal nichts Positives abgewinnt. Ohne dass ich mich oder andere Leute „festschreiben“ will, aber so lernt man sich selbst immer besser kennen…

I: … jetzt frage ich mich, welches Thema hier ein guter Anschluss wäre; ich muss überlegen…

P: … bitte sehr! Das verschafft uns ein bisschen Luft… oder neuen Kaffee!

I: Ja bitte.

– – –

I: Lassen Sie uns über Ihre Wohnung sprechen – sie ist ja auch ein bisschen Atelier

P: Ja, weil sie so klein ist! [lacht] Nein, aber im Ernst: es ist ein bisschen ein Wohnatelier. Ich hätte nie, auch nicht mit mehr Geld zur Verfügung, eine Trennung zwischen Leben oder Wohnen und dieser Art Arbeit gewollt. Viele würden es sicher unaufgeräumt finden, aber ich selbst empfinde einen Unterschied zwischen wahllos herumstehenden oder ~liegenden Sachen und den Malsachen… oder Staffeleien, oder Lektürestapeln mit Büchern, die mich gerade inspirieren – das stört mich nicht nur nicht, sondern es gibt mir ein gutes Gefühl.

I: Ich empfinde es nicht als unaufgeräumt, sondern eher so, wie Sie es selbst beschreiben… ich kann Ihr gutes Gefühl nachvollziehen; es ist gemütlich!

P: Ja, ich fühle mich hier sehr wohl. Und ich stelle fest, dass ich tatsächlich nicht mehr Quadratmeter brauche…

I: Mit was oder wem fühlen Sie sich derzeit nicht wohl, was stört Sie?

P: Ach du je… damit, wie Politik gemacht wird… damit, wie Kirche gemacht wird… [schüttelt den Kopf, zuckt mit den Schultern] Ich bin da sehr nah an den Argumenten, die derzeit in der Bevölkerung kursieren; beides menschenfern, wenig bis gar nicht transparent… teilweise gehen Sachen ab, die müsste man in dieser Minute stoppen… es hat alles mehr mit persönlicher Macht zu tun als damit, was die Sache an sich eigentlich soll, gerecht Gemeinschaft regulieren und gemeinsame Gelder verwalten, und zwar ordentlich, und im Fall der Kirche der Glaubensgemeinschaft Treffpunkte stellen und ebenfalls gemeinsame Gelder ordentlich verwalten. Ich weiß, das klingt eher platt, aber ist es nicht so? Ich für mein Teil wollte in keinem Falle mehr als das, und auch, wenn es schwieriger und vielschichtiger ist als es jetzt hier bei mir klingt, glaube ich, dass die Bevölkerung Recht hat mit ihrem kollektiven Bauchgefühl, und oft geht es ja schon über Gefühl hinaus… die Skandale sind ja teilweise dokumentiert, und trotzdem werden für unser aller Gefühl keine adäquaten Schlüsse gezogen und folgt kein Handeln, sowohl in Politik als auch in Kirche. Mit der Möglichkeit des Kirchenaustritts spiele ich, seit ich 15, 16 bin, und die Beweggründe sind bis heute gleich. Menschenfern, männerdominiert und zu prunksüchtig. Und immer noch zu intolerant Andersdenkenden gegenüber. Dass ich den Austritt jetzt vollzogen habe, liegt aber noch nicht mal an den jüngsten Skandalen, sondern daran, dass ich mit der Trennung meiner Ehe, deren Trauung ja damals auch kirchlich stattgefunden hat, jetzt mit Einigem aufräumen wollte, was nicht mehr aufrichtig war in meinem Leben oder es jetzt nicht mehr ist.

I: Hat sich Ihr Glaube verändert oder anders gefragt: waren Sie je gläubig?

P: Also erstmal: Kirche hat mit dem Glauben nichts zu tun, jedenfalls nicht bei mir. Auch ein Grund für den Kirchenaustritt und der ziemlich sicheren dauerhaften Einstellung, nie wieder in irgendeine Religionsgemeinschaft einzutreten: keine von Menschen gemachte Religion fühlt sich für mich „richtig“ an. Dass die Religionen von Menschen gemacht sind, widerspricht der Sache, um die es geht, auf’s Heftigste selbst: dass es eben um eine Höhere Macht gehen soll; um etwas für den Menschen Unvorstellbares. In jeder durch einen Menschen initiierten Religion fehlt mir die Demut vor der Sache; alles wird in meinen Augen schlagartig unglaubwürdig, im wahrsten Wortsinne! Und wenn die Menschen dann noch anders handeln, als sie es sich selbst auf die Fahne geschrieben haben… [zuckt mit den Schultern] In der Politik ist es doch nicht anders: etwas läuft gründlich schief, und im Fernsehen ist ein Wissenschaftler mit seiner Expertenmeinung zu sehen und zu hören, mit etwas, das sich nach Hand und Fuß anhört, erklärt, warum es quasi schief laufen muss und was zu machen sei, um es zu ändern – und nichts passiert. Vielleicht würde auch dieser Experte in der Praxis schief liegen, aber sie lassen es ja nicht einmal auf einen Versuch ankommen! Ja, und das drängt mir und vielen anderen den Eindruck auf, dass es um diese Sachverhalte nicht wirklich gehen kann…

I: … das hat meine Frage aber noch nicht beantwortet: sind Sie gläubig?

P: … ich glaube schon… [schmunzelt] Es ändert sich manchmal, immer nur ein bisschen, und es kommt darauf an, wer mich im Gespräch oder im Fernsehinterview oder sonst wo beeinflusst – und die Beeinflussung meine ich jetzt durchaus selbstverantwortlich! Wenn das ein mir sympathischer, authentischer Mensch mit einer ansonsten für mich nachvollziehbaren Gesinnung ist… sagen wir mal…: Ranga Yogeshwar [schmunzelt]. Ich kenne seine religiöse Gesinnung nicht, aber wenn er mir in seiner Art erklären würde, warum Menschen an Gottheiten glauben, was körperlich und seelisch abläuft, dass es nicht nur keinen Beweis gibt, sondern dass es ziemlich unwahrscheinlich ist, dass es so etwas gäbe – das würde meine atheistische Seite schon bedienen, muss ich sagen. Und dem gegenüber stünde immer noch mein Glaube, dass es für mich unvorstellbar wäre, wenn es nichts [betont das Wort] mehr über uns gäbe, wenn die Wunder, die es auf der Welt gibt, allen voran die Natur und die Liebe, nicht [betont das Wort] durch etwas Höheres angestoßen wären… und ich glaube nicht an die Erschaffung des Menschen und der Natur, wie es in der Bibel steht; ich glaube schon an Charles Darwin! Aber auch dabei wäre ja nicht ausgeschlossen, dass nicht doch alles seinen Ursprung in einem… sozusagen „göttlichen Urknall“ hatte… – und danach die Entwicklung ihren Lauf nahm. Keinesfalls kann ich an einen eingreifenden und regulierenden Gott glauben… das ist einfach nicht in mir. Aber ich finde z. B. keine wissenschaftliche Begründung für „Liebe“ [demonstriert die Anführungszeichen], und zwar für die Art Liebe, die nicht biologisch oder gesellschaftlich begründet werden kann. Natürlich vorausgesetzt, es gibt diese Art Liebe, an die ich glaube, für andere Menschen auch; sonst könnte man natürlich sagen, mein Geist hätte sich auch dieses „zusammengestrickt“. Und wenn es ein paar mehr Menschen glaubten, gäbe es immer noch ein paar, die sagen würden, wir alle hätten uns da was zusammengestrickt… – das ist mir jetzt selbst zu kompliziert geworden im Kopf… [zieht die Augenbrauen zusammen]

I: … und ich dachte gerade: noch kann ich folgen! [lacht] – Und gibt es noch was, was Sie stört in der Welt, im Leben…?

P: … dass Menschen hungern, obwohl genug da ist… dass Menschen einander Gewalt antun… Rücksichtslosigkeit. Oder wenn es an gegenseitigem Respekt fehlt, an bedingungslosem Respekt einem anderen Menschen gegenüber… es gibt Vieles… – wenn alle nach dem Kantschen Imperativ leben würden, ginge es der Welt besser, würde ich sagen; vielleicht ginge es ihr irgendwann sogar gut. Da brauchte es keine Religionen mehr, die sich gegenseitig beharken und bekriegen – und die Politik würde man nicht mehr wieder erkennen!

I: Denken Sie nicht, dass die Welt auch so aus allem lernt… die Menschen lernen…?

P: Das sollte man meinen, aber irgendwie zweifle ich daran. Es kommen ja immer wieder neue, andere Katastrophen und Herausforderungen in der Menschheitsgeschichte! Ja, und dann dieser Egoismus! Vielleicht sind die Leute so an Macht und Geld interessiert, weil sie auch für sich selbst an nichts Höheres glauben, weil sie glauben, dass vielleicht alles mal komplett den Bach runtergeht. Da wollen sie es wenigstens schön gehabt haben… ich weiß es nicht. Ich muss an einen Freund denken, einen ganz zauberhaften Menschen, der aber auch sagt, dass es vermutlich nur darum geht, das Beste daraus zu machen – für sich. Die Zeit schön zu verbringen.

I: Aber Sie glauben das nicht…

P: Ich würde es nicht genau so ausdrücken. Im Gegensatz zu z. B. ihm glaube ich, dass alle Leben, dass wir alle unseren Beitrag leisten, dass sich der Erdball mehr positiv oder mehr negativ entwickelt… dass alles Belang hat, was jeder tut – in der Summe. Bill Viola, der Videokünstler, hat vor ein paar Jahren bei seiner Ausstellungseröffnung im Gasometer in Oberhausen gesagt: „Vielleicht ist der Einzelne nicht ewig, aber wir alle zusammen sind es.“ Das hat mich total berührt! Wenn ich ihn nicht völlig falsch interpretiert habe, hat er mir aus der Seele gesprochen! Natürlich sollen es sich alle im Leben so schön machen, wie’s nur geht, aber nicht rücksichtslos und auch nicht ohne Voraussicht. Irgendwie angemessen – ich kann es nicht gut ausdrücken. Es sind alle gleich wichtig, den Erdball in die positive Richtung zu bringen, ohne dass ich überzeugt bin, dass das auch so geschieht… mein Freund und ich werden’s nicht mehr erleben, wie’s sich entwickelt…

I: Bedauern Sie das?

P: Ja, von ganzem Herzen! Was das angeht, wäre ich wirklich so was von neugierig… alle hundert Jahre mal gucken… oder besser alle 50… das hätte was!

I: Wenn Sie etwas weiter geben könnten an nachfolgende Generationen, an nachfolgende Menschen, was wäre das?

P: Daran glaube ich nicht. Das funktioniert nicht mal unter Zeitgenossen, dass einer von der Erfahrung eines anderen profitieren kann. Das funktioniert aber, wenn einer wirklich sucht, wenn jemand nach einer Lösung sucht. Und die wird er immer zu seiner Zeit finden.

I: Naja, ist ja auch noch etwas früh für Sie, Erfahrung weiter zu geben [schmuzelt]… vielleicht frage ich in ein paar Jahren noch mal!

P: Gerne!

I: Danke für das ausführliche Gespräch.

P: Bitteschön.

 

[Das Interview wurde privat geführt und aufgezeichnet im Sommer 2010]

 

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